Dietmar Wischmeyer

Silvester

Meine Name ist Dietmar Wischmeyer und dies ist das Logbuch einer Reise durch das Land der Bekloppten und Bescheuerten. Hier ist mein Bericht.

Nicht mehr lange, und er schlägt gnadenlos zu: der debile Salzletten-Frohsinn zur Jahreswende. Schon am frühen Morgen marodiert die verwahrloste Jugend mit Böllern durch die Verkaufszonen und verwandelt sie in ein heimeliges Sarajevo. Hier sprengt ein Kanonenschlag den Briefkasten, dort jagt ein Zieselmann dem stoischen Wachtturmverkäufer die himmlische Botschaft aus den verfrorenen Fingern. Unterdessen versuchen die Bekloppten und Bescheuerten noch teilverseuchtes Gekröse fürs abendliche Fondue zu ergattern. Hinterm umklappbaren Rücksitz des fernöstlichen Knuffi-Autos liegen schon acht Kisten "Schloß Frankenstein", mit denen sich die Alkoholiker-Schicksalsgemeinschaft - genannt Ehe - des Abends vorm TV den Brägen durchpustet. Wenn die Beute aus der Fußgängerzone heimgetragen, gilt es für die längste Nacht des Jahres zu rüsten: der Fischli will anständig präsentiert sein, der Darmzottenspieß fürs Fondue gestaltet und natürlich die Königin des Neujahrskaters bereitet werden: die Silvesterbowle. Man nehme ein leidlich von Algen befreites Aquarium, zehn Liter Kellergeister, ca. fünf Kilo in Springer Urvater gereifte Dosenananas und würze mit einer Flasche Apfelkorn etwas nach. Nur anderthalb Gläser dieser Mörderbrühe verwandeln jeden harmiosen Partygast in ein verröchelndes Ausscheidungsorgan. Damit sich im mitternächtlich Erbrochenen auch noch einige feste Bestandteile finden, reicht der aufmerksame Gastgeber noch eine Platte zuckriger Fettkringel herum. Wer es jetzt immer noch nicht schafft, das neue Jahr als physisches Wrack zu beginnen, ist selber schuid. Gerne wird auf der Silvesterparty neben unkontrolliertem Alkoholkonsum auch noch einem anderen Vergnügen gefrönt: Aus dem Orkus des Plattenschranks werden die verkratzten Scheiben mit Hits a gogo von James Last hervorgekramt und zu längst vergessenem La Bostella und Letkiss die verfettete Nachbarin respektive deren schwammiger Gemahl angegrabbelt. Um zwölf liegt sich dann die ganze besoffene Blase draußen in den Armen - der Schlaue nutzt die Gelegenheit und kotzt in die Koniferen. Spätestens fünf nach zwölf wird sich jeder Gast des erbärmlichen Elends der Party bewußt und versucht die noch funktionierenden Reste seines vergifteten Körpers in das heimische Endlager zu transportieren. Doch allein, es will kein Taxi kommen, und selbst die dicke Gattin kann nicht mehr fahren, was den Ehemann zu dem Neujahrsgedanken hinreißt, weshalb er den verlebten Brocken überhaupt noch durchfüttert, wenn nicht einmal die Restfunktion des nächtlichen Fahrdienstes noch gewährleistet ist. Eine Silvesterparty zerstört sich selbst durch mindestens drei fundamentale Irrtümer. Erstens: Der kalendarische Zufall sei ein Anlaß zum Feiern. Zweitens: Die Sollbruchstelle um zwölf heize die Stimmung an. Und drittens: Je mehr Leute zur gleichen Zeit betrunken sind, desto schweinelustiger sei die ganze Chose. Das Gegenteil ist der Fall: Wird eine dumpfe Sauferei doch erst dadurch zum Fest, daß andere von ihr ausgeschlossen sind. Wenn im Dezember 1999 die Mega-Silvesterparty droht und die ganze Weltbevölkerung in einen kollektiven Vollrausch verfällt, so wird derjenige das Jahrtausendgeschäft machen, der einwöchige Komaspritzen rezeptfrei am Kiosk verkauft. Ich bestell' jedenfalls schon mal eine.


(abgetippt von Thomas Bunz)